Kinderverschickungen – Eine Erinnerung

27 August 2020 , Verfasst in Aus dem alten Lennep 

Neulich sahen meine Frau und ich im Fernsehen zu später Stunde einen Beitrag zu den Kinderverschickungen in unserer Jugend, also in den 1950er und 1960er Jahren. Ich selbst kann mich daran noch gut erinnern, da auch ich seinerzeit „verschickt“ wurde, und zwar im Jahre 1957; damals war ich zehn Jahre alt.

Im Onlinelexikon Wikipedia, in dem sich das Thema z.Zt. augenscheinlich immens entwickelt, heißt es am Anfang des Artikels: Als Verschickung bezeichnete man das Verbringen von Klein- und Schulkindern aufgrund gesundheitlicher Probleme in Kur- oder Erholungsheime. Mindestens 8 Millionen bis sogar 12 Millionen Kinder, die unterernährt oder wegen Krankheit erholungsbedürftig waren, wurden von der Nachkriegszeit bis in die 1990er Jahre in der Bundesrepublik für meist sechswöchige Aufenthalte in Heime an der See oder in den Bergen verschickt.

So etwas gab es natürlich auch in Lennep, und beim Anschauen des Fernsehberichts kam mir in den Sinn, dass ich im Jahre 1957 ca. 6 Wochen im Rahmen einer solchen Verschickung auf der Nordseeinsel Borkum zubrachte. Wahrscheinlich hatte meine Lenneper Kinderärztin den Anstoß dazu gegeben, da ich seit meiner Geburt unter asthmatischen Beschwerden litt. Allgemein galt ja, dass da ein Aufenthalt an der See oder in den Bergen für Besserung sorgen könne. Ich nehme heute an, dass die Beantragung und Abwicklung der Verschickung seinerzeit über die einschlägige Krankenkasse erfolgten, anders als in vielen Fällen handelte es sich hier jedoch um keine Sozial- oder Wohlfahrtsmaßnahme, denn meine Eltern waren damals gut verdienende Lenneper Unternehmer.

Abb. 1 Abb. 2
Privatkinderheim Mövennest, Borkum, alle Kinder schickten diese Ansichtskarten nach Hause und schrieben, dass sie gut angekommen seien und gut zu essen bekämen.

An Einzelheiten während des Aufenthaltes auf Borkum kann ich mich heute kaum mehr entsinnen. Das von meinen Eltern für mich erstellte Fotoalbum zur Kindheit und frühen Jugend enthält allerdings zwei Ansichtskarten, auf denen das Äußere des Kinderheims und der Speise- und Spielsaal darin abgebildet sind. Und in der Tat: wenn ich mir heute den Saal auf den Ansichtskarten anschaue, dann erinnere mich daran, dass wir Kinder dort in Reih und Glied unsere Mahlzeiten einnahmen. Die bunten maritimen Wandbemalungen mit großen Segelschiffen kehren dann in mein Bewusstsein zurück. Bei mir „hängen geblieben“ ist u.a. auch, dass es bei den Mahlzeiten viele Suppen gab, meist eine Art Milchsuppe mit brauner Zuckereinbrenne, das Wort „Karamellsuppe“ dafür ist noch in meinem Hinterkopf, immer gab es dunkles Brot dazu mit gesalzener Butter, vielleicht war es auch Margarine. Die Tage verbrachten wir mit ausgedehnten Spaziergängen an der frischen Seeluft an den verschiedenen Stränden und im Innern der Insel, z.B. in der Nähe der Sanddornwälder, wobei viel gesungen wurde, um die Lungen zu stärken. Ich erinnere mich noch bruchstückhaft an das Kinderlied, in dem sich eine olle Flunder in einen jungen Hering verliebt, zwo, drei, vier, tirallala. Und natürlich hatten wir Kinder auch Sonnenbrand.

Es besteht heute weitgehend Einigkeit darüber, dass der Betrieb von Kindererholungsheimen seinerzeit in vielen Fällen nur zum Teil der Kindergesundheit diente, er war auch ein respektabler  Wirtschaftsfaktor der Nachkriegszeit. Der Erfolg der Kuraufenthalte wurde oft einzig und allein daran gemessen, dass das Heimkind in seinen vier bis sechs Wochen deutlich an Gewicht zunahm, ein nach dem Krieg sicherlich notweniger, aber aus heutiger Sicht nicht hinreichender Aspekt. Ich erinnere mich noch gut, dass insbesondere bei der Ankunft und vor der Heimreise bei den Untersuchungen entsprechende Gewichtsfeststellungen getroffen wurden, natürlich kam auch die Messung des Lungenvolumens dazu. Ich sehe noch den sich aufblähenden Gummiball der Apparatur vor mir und erinnere mich an meine schwindenden Sinne in der Endphase der Anstrengung beim Aufblasen. Das Borkumer Erholungsheim, über das ich hier berichte, hieß übrigens „Mövennest“. Auf den Ansichtskarten, mit denen diese Institution warb, stand „Privat – Kinderheim – Mövennest, Dr. med. Scheu, Meeresheilbad Borkum“.

Abb. 3 Abb. 4
Typische Nachrichten auf den pflichtgemäßen Ansichtskarten, die von den Angehörigen ja sehnlichst auch erwartet wurden.Trotz allem blieb für private Nachrichten und Grüße immer Raum.

Mein etwa sechswöchiger Aufenthalt in diesem Erholungsheim fand wie bemerkt im Jahre 1957 statt. Wie meine Eltern in Lennep später der Presse entnehmen konnten, war der Leiter und Eigentümer Dr. med. Werner Scheu in der NS-Zeit Mitglied der NSDAP und der Waffen-SS. 1941 beteiligte er sich als Offizier aktiv an einem Massenmord an 220 litauischen Juden und wurde deshalb 1964 rechtskräftig zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt.

Zu Recht stehen die Nachkriegsverschickungen von Kindern heute in erheblicher Kritik, denn, wie es in einem gegenwärtigen Text heißt, sie wurden von den Betroffenen im Rückblick häufig als traumatisierend wahrgenommen. Es erhielt sich in den Verschickungsheimen lange Zeit ein strenger, vereinzelt noch von NS-Ideologien geprägter Umgang mit den Kindern, auch mit vielen Fällen psychischer und körperlicher Gewalt.

Ich kann dies für meinen Borkumer Aufenthalt im Jahre 1957 natürlich nur aus kindlicher Sicht bestätigen, von Nationalsozialismus wusste ich als Zehnjähriger naturgemäß nichts, aber aus heutiger Sicht empfinde ich manche der damaligen Strafmaßnahmen keinesfalls als kindgerecht. Beispielsweise mussten wir auch bei kleineren Vergehen gegen die Heimordnung auf dem Flur des Heimes zur Strafe lange Zeit mit nackten Knien auf dem dortigen Sisalläufer verbringen, das tut mir heute noch weh, und ich sehe noch die roten Striemen auf der Haut deutlich vor mir. Ähnliche Maßnahmen wie das stundenlange Stehen mit nackten Füßen auf kalten Steinplatten wurden später bekannt. Derartige Strafmaßnahmen gab es seinerzeit allerdings noch in vielen Bereichen, und sie bedurften nicht unbedingt des Nationalsozialismus als Ideologie.

Gottseidank war der geschilderte Aufenthalt in Borkum nicht mein letzter. Bereits drei Jahre später, also im Jahre 1960, ging es mit dem Lenneper CVJM wieder dorthin, und zwar in die dortige CVJM-Jugendherberge Waterdelle. Das empfand ich als ausgesprochen schön, ich erinnere mich gern daran, aber dies ist schon wieder eine andere Lenneper Geschichte.

Kinderverschickungen gab es natürlich nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Mal abgesehen von den Kinderlandverschickungen insbesondere in der nationalsozialistischen Zeit, die hier nicht Thema sind, gab es Verschickungen aus medizinischen Gründen auch schon in der deutschen Kaiserzeit, u.a. als sog. Kinderkuren. Es handelte sich um Maßnahmen, die der Gesundheit, Erholung und Therapie von Kindern und Jugendlichen dienen sollten. Sie wurden schon früh in der Regel in klimatisch besonderen Lagen (See, Gebirge) in speziellen Vorsorge- und Reha-Einrichtungen für Kinder und Jugendliche durchgeführt.

Dazu jetzt ein weiteres Lenneper Beispiel, speziell aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Mein Vater Artur Schmidt erkrankte im Jahre 1916 als Zweijähriger an Lungentuberkulose, das Kindermädchen am Kaiserplatz, heute Mollplatz, hatte ihn angesteckt. Nach den umfangreich niedergeschriebenen Lenneper Lebenserinnerungen seiner Zwillingsschwester Lotte sagte das Kindermädchen eines Tages zur Mutter: „Ich kann nicht mehr bei Ihnen bleiben, weil ich wieder krank bin“. Die Eltern sahen sich nun genötigt, den kleinen Artur in ein Kinderheim an die Nordsee zu bringen. In Wyk auf Föhr sollte er seine Krankheit ausheilen. Seine Zwillingsschwester erkrankte übrigens während der Abwesenheit ihres Bruders zuhause an Diphterie. Rückblickend schreibt sie später: „Als Bubi nach eineinhalb Jahren wieder zurückkam, kannte er uns nicht mehr. Er war aber ohne zu zögern mit Mutter aus dem Kinderheim weggegangen. Ich weiß noch, wie glücklich ich war, dass er wieder da war. Er lag mittags im Zwillingsschlafzimmer zum Kaiserdenkmal hin mit der geblümten Tapete in seinem Kinderbett. Nicht eines der schönen Kinderbilder an der Wand von Johanna Spyri wollte er ansehen. Darüber war ich sehr traurig.“ Aus Krankheitsgründen verbrachten damals übrigens weitere Kinder der Familie mehrere Erholungszeiten an Nord- und Ostsee. Nach heutiger Empfindung ist sicherlich eine eineinhalb Jahre andauernde Abwesenheit eines Kleinkinds von der Familie undenkbar, auch wenn sie aus Gesundheitsgründen geschah.

Abb. 5 Abb. 6
Das Lenneper Kleinkind Artur Schmidt (1914-2000) verbrachte im Ersten Weltkrieg eineinhalb Jahre zur Erholung in Wyk auf Föhr. Als er nach Lennep zurückkam, erkannte er seine Familie nicht. Auf dem Foto oben links sieht man ihn unten rechts, auf dem zweiten Foto links auf dem Arm einer Kinderschwester, unten erblickt man ihn auf dem rechten Foto als kleinsten Jungen der sieben Kinder mit seiner Mutter im Elternhaus an der Poststraße bzw. Kaiserplatz, heute Mollplatz.

Abb. 7 Abb. 8

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